Accessibility – the Unsexiest Part of Web Development?
In den letzten Jahren meines Berufslebens habe ich mich intensiver mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftigt als zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn. Weshalb eigentlich? Ich habe auch eine Reihe von Kollegen und Kunden gefragt, wie es bei Ihnen aussieht. Dabei bin ich auf viele Vorurteile und Unkenntnisse gestossen, über die ich hier schreiben möchte.
Bei meinen Recherchen habe ich auch immer wieder nach Best-Practice-Beispielen für Barrierefreiheit gesucht. Dabei ist mir aufgefallen, wie wenig gute Beispiele es gibt. Selbst die Lösungen von Organisationen, die Barrierefreiheit als eine ihrer Dienstleistungen verkaufen, sind oft nicht wirklich überzeugend. Woran liegt das?
Ein Grund für beide Beobachtungen ist sicherlich, dass viele keine ausreichende Ausbildung in diesem Bereich erhalten haben und nur selten für dieses Thema sensibilisiert wurden.
Auch bei mir waren es konkrete Kundenanfragen, die mich veranlasst haben, mich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Aber gerade bei knappen Budgets wird beim Thema Accessibility zuerst gespart, so dass die Zahl derer, die von Auftraggeberseite Barrierefreiheit einfordern, noch verschwindend gering ist und die Gruppe derer, die sich in der Kommunikationsbranche mit Inklusion und Barrierefreiheit gut auskennt, sehr klein ist.
Um ein wirklich inklusives digitales Angebot zu erstellen, bedarf es nämlich etwas mehr, als die verwendeten Farben mit einem Kontrast-Checker zu überprüfen und Alt-Texte in Bilder einzufügen.
Wenn die Richtlinien zur Barrierefreiheit selbst zur Barriere werden
Ein weiterer Grund, warum das Thema Barrierefreiheit bei vielen so unbeliebt ist, liegt darin, dass die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte extrem schwer verständlich sind. Sie lesen sich wie ein verklausuliertes Vertragswerk. Ich kenne kaum ein Regelwerk, für das es so viele Hilfs- und Erklärungs-Websites gibt wie für die Richtlinien für barrierefreie Webinhalte.
Aber auch die alleinige Anwendung von Regeln macht noch keine gute barrierefreie Anwendung aus, wie mir Gespräche und Tests mit Betroffenen gezeigt haben. Wir sollten uns vielmehr fragen, was allen unseren Nutzern, nicht nur den durchschnittlichen, am meisten weiter hilft. Und vor allem sollten wir Menschen mit Behinderungen in unser User Research einbeziehen. Damit erweitern wir die Gruppe der zufriedenen Nutzer enorm.
Im Bereich Accessibility folgen wir eher Regeln statt Nutzerbedürfnissen.
Ich habe bei LinkedIn eine Befragung von Digitalagenturen, d.h. deren POs und und UX-Designer durchgeführt und genau zwei Fragen gestellt:
- Wieviel Prozent der Personas in Euren UX Projekten innerhalb der letzten 12 Monate waren Menschen mit Behinderungen?
- Wieviel Prozent der Testpersonen in Euren Nutzer-Tests der letzten 12 Monate waren Menschen mit Behinderungen?
Auch wenn meine Umfrage im streng wissenschaftlichen Sinne nicht repräsentativ war, hat sie mir doch gezeigt, dass ich in ein Vakuum gestossen bin. Keiner dieser etwa 80 ausgewiesenen UX- und Web-Profis in Deutschland und der Schweiz hat im letzten Jahr diesen Teil der Bevölkerung in einem User Research oder Testing berücksichtigt!
Eigentlich ein Grund, sich zu schämen. Denn laut Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz 22% der Bevölkerung im Sinne des Gleichstellungsgesetzes behindert, d.h. sie haben eine Beeinträchtigung, die ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich erschwert.

Diese Schieflage oder dieser «Gap» wird mir und anderen immer bewusster und ich bin froh, dass wir unser Unternehmen im November letzten Jahres dazu bewegen konnte, Gründungsmitglied der ADIS zu werden. Diese Initiative setzt sich in der Schweiz dafür ein, dass die digitalen Barrieren für Menschen mit Behinderungen möglichst effizient und schnell abgebaut werden. In gut vier Wochen treffen sich die Akteure der Allianz zu einer ersten Arbeitstagung, um Projekte und Massnahmen zu planen.
Ja, es tut sich was! Auch in der EU, die ab Mitte 2025 dem bereits beschlossenen «European Accessibility Act (EAA)» nun Gesetzeskraft verleiht. Das bedeutet, dass kommerziellen Anbietern digitaler Dienste ab Juni 2025 empfindliche Strafen drohen, wenn ihre Angebote nicht barrierefrei sind.
Inklusion und Barrierefreiheit von Anfang an einplanen
Warum also nicht gleich bei der nächsten Projektplanung, beim nächsten Projekt-Kickoff das Thema «Barrierefreiheit» auf die Agenda setzen? Häufig werden Überlegungen zur Barrierefreiheit erst gegen Ende der Konzeptionsphase angestellt, wenn viele konzeptionelle Parameter bereits festgelegt sind und Anpassungen diesbezüglich nur noch mit hohem Aufwand möglich sind. Glauben Sie, dass Sie mit diesem Vorgehen die Interessen von Menschen mit Behinderungen angemessen berücksichtigen?
Genauso wenig wie man einer Website eine gute Usability «hinzufügen» kann, lässt sich Barrierefreiheit nicht so einfach im Nachhinein nachrüsten. Das Ergebnis sind dann oft Lösungen, die zwar ein Mindestmass an gesetzlichen Anforderungen erfüllen, aber aus Sicht von Menschen mit Behinderungen alles andere als überzeugend sind.
Usability und Accessibility sollten von Anfang an Bestandteile der strategischen Ausrichtung und fest im Konzeptionsprozess verankert sein. Andernfalls wirken sie wie nachträglich eingefügte Fremdkörper.
Sie möchten Ihre Website barrierefrei umsetzen?
Sprechen Sie uns an!Rechtliche Grundlagen
Hier in der Schweiz gelten die «Richtlinien für barrierefreie Webinhalte» in der Konformitätsstufe AA grundsätzlich für alle digitalen Angebote von Staat und Verwaltung. Aber auch alle kommerziellen Anbieter sind gut beraten, sich an diese Richtlinien zu halten, sonst drohen nicht nur Reputationsverluste, sondern auch Bussgelder, denn die EAA gilt auch für alle Schweizer Unternehmen, die Warenlieferungen oder Dienstleistungen in die EU anbieten.
Darüber hinaus wird das Ausmass der Vorteile, die sich aus barrierefreien Angeboten ergeben, von vielen Unternehmen unterschätzt. Barrierefreiheit ist nicht nur eine Pflichtübung, sondern ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Wie Studien zeigen, verlassen Menschen mit Behinderungen nicht-barrierefreie Angebote umgehend und kehren in der Regel auch nicht mehr zurück. Umbekehrt ist das «Word of Mouth» in dieser Zielgruppe enorm, da viele Menschen mit Behinderungen untereinander vernetzt sind.
Barrierefreie Angebote profitieren daher schon jetzt von einem Reputationsgewinn und bis zu 20% mehr Interessenten. Und umgekehrt: eine Studie aus Grossbritannien zeigt, dass Unternehmen, deren digitale Angebote nicht barrierefrei sind, jährlich rund 17,1 Milliarden Pfund verlieren.
Von barrierefreien Angeboten profitieren alle
Auch Menschen ohne körperliche Einschränkungen profitieren von barrierefreien Angeboten, denn die Barrieren bei der Nutzung von Webseiten können vielfältig sein. Beispielsweise beeinträchtigen auf Computer- und Smartphone-Displays Reflexionen und direktes Sonnenlicht die visuelle Wahrnehmung erheblich. Auch unnötig komplexe und unübersichtliche Menüs mindern die Benutzerfreundlichkeit und damit die Zufriedenheit aller. Und wer hat nicht schon einmal versucht, in einem ruckelnden Zug oder in der Tram ein kompliziertes Dropdown-Menü zu öffnen oder ein Element via Drag-and-Drop von A nach B zu verschieben?
Barrierefreie Websites werden von Suchmaschinen besser gerankt
Last-but-not-least: Barrierefreie Websites werden von Suchmaschinen besser gelistet, weil viele Massnahmen (Alt-Texte, strukturierte Überschriften, korrekt beschriftete Funktionselemente) gleichzeitig sehr suchmaschinenfreundlich sind und die damit verbundene Usability die Verweildauer der Nutzer auf den Seiten erhöht.
Es gibt also viele Gründe, die für inklusive Angebote sprechen. Insofern sollte Barrierefreiheit spätestens im Jahr 2025 auch ein fester Bestandteil Ihrer Unternehmensphilosophie werden.
Sollten Sie noch nicht genau wissen wie – kontaktieren Sie uns einfach. Gerne unterstütze wir Sie bei der Suche nach geeigneten Lösungen.
Über den Autoren:
Thomas Sokolowski ist Diplom-Designer und studierte «Visuelle Kommunikation» an der Fachhochschule Hildesheim/Holzminden. Seit mehr als 15 Jahren ist er in den Bereichen Interaction und User Experience Design tätig. Zu seinen beruflichen Schwerpunkten gehören neben inklusivem und barrierefreiem Design auch die Konzeption und Umsetzung von Designsystemen.
Quellen sowie weiterführende Informationen:
- Das Titelbild zeigt einen Barrierefreiheitstest, den wir am 10.02.2025 mit dem Tool «WAVE Web» durchgeführt haben. Getestet wurde das offizielle Internetportal der Schweizer Regierung: admin.ch Allein auf der Startseite fanden wir 40 erhebliche Accessibility-Mängel!
- Die «Richtlinien für barrierefreie Webinhalte» in verständlicher Sprache
- Unsere Accessibility Checks: Der erste Schritt zu einer barrierefreien Lösung